Episodios

  • Im Gespräch mit ... Heiner Bielefeldt
    Jun 13 2025

    Mag eine Deklaration nur eines einzigen Sprechaktes bedürfen, wird es deutlich komplizierter, wenn die Wörter auf die Wirklichkeit treffen - und es darum geht, die hehren Absichten in die Tat umzusetzen. Genau dies ist das Problem der Menschenrechte, die allüberall im höchsten Ansehen stehen, aber vor allem dann auf die Tagesordnung geraten, wenn die Würde des Menschen sich als höchst antastbar erwiesen hat. Spätestens hier wird sichtbar, dass wenig gewonnen ist, wenn man die Menschenrechte, wie es ein Großteil der Philosophen getan hat und immer noch tut, aus dem Naturrecht ableiten will. Hannah Arendt jedenfalls, die sich, in Anbetracht der existenziellen Heimatlosigkeit des Menschen in der Moderne mit dieser Frage beschäftigt hat, war der Meinung, dass man die Menschenrechte nicht aus dem Naturrecht ableiten kann, sondern dass sie historischer, mehr noch, europäischer Provenienz sind. In diesem Sinn ist die Vorbedingung für das Menschenrecht die Annahme, dass der Mensch das Recht besitzt, Rechte zu haben - und dies wiederum setzt die Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen voraus, das seine Rechtsansprüche abzusichern gewillt ist. Genau dies war der Grund, der mein Augenmerk auf Heiner Bielefeldt gelenkt hat, der seine ganze berufliche Karriere der Menschenrechts-Frage gewidmet hat. Herausgekommen ist ein Gespräch, das sich langsam, aber unwiderstehlich an die zugrundeliegende Problematik heranzoomt. Oder wie Karl Kraus dies einmal in ein wunderbares Aperçu übersetzt hat: Je näher man ein Wort anschaut, desto ferner schaut es zurück.

    Bis zu seiner Emeritierung bekleidete Heiner Bielefeldt, der von der Wikipedia als Theologe, Philosoph und Historiker geführt wird, den Lehrstuhl für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Zudem war er, als Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit des UN-Menschenrechtsrats, mit höchst praktischen Fragen beschäftigt.

    Von Heiner Bielefeldt sind u.a. erschienen:

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    1 h y 31 m
  • Im Gespräch mit ... Bernhard Krötz
    Jun 1 2025

    Es passiert nicht allzu häufig, dass jemand, der eigentlich in der höheren Mathematik zuhause ist (und sich dort mit reellen sphärischen Räumen, Liu-Gruppen und Fragen der Spektralanalyse beschäftigt), sich in die Niederungen unseres Bildungssystems hinein verirrt, mehr noch, dass er den Schulunterricht darauf befragt, ob er das, was zu leisten er vorgibt, tatsächlich abliefert. Dass Bernhard Krötz sich diesem Exerzitium unterzogen hat, mag damit zu tun haben, dass ihn die Corona-Krise, als Vater eines heranwachsenden Sohnes, in die häusliche Lehre hinein nötigte. In jedem Fall bespricht Krötz seit dem Jahr 2021 auf seinem YouTube-Kanal den real existierenden Mathematikunterricht. Und weil seinen Videos ein großer Zuspruch beschieden ist, erreichten ihn die Berichte von verzweifelten Eltern und Schülern, die einen nicht-enden-wollenden Strom von Anschauungsmaterial darüber lieferten, wie eine Mathematik ohne Mathematik – und eine Physik ohne Physik – tatsächlich aussehen kann. Wenn Georg Picht in den 60er Jahren eine Bildungskatastrophe ausgerufen hat, fragt sich, welch passendes Wort sich für den heutigen Niedergang finden ließe. Klar ist lediglich: Dieser Qualitätsabstieg hat wenig mit dem grandiosen Selbstbild der Bildungsrepublik Deutschland zu tun. Sonderbarer ist, dass ein Land, das in Ermangelung der entsprechenden Bodenschätze vor allem auf die intellektuellen Leistungen des eigenen Nachwuchses angewiesen ist, hier so schlagend versagt; und dies ist umso erstaunlicher, als das Versagen begleitet wird von einem Chor unermüdlicher Bildungsreformer. Und weil dies eine Frage ist, der ich selbst seit langer Zeit nachhänge, bin ich auf Bernhard Krötz gestoßen, der mit großer Genauigkeit die Sinnwidrigkeiten der schulischen Praxis zergliedert. Versucht man ein Muster herauszupräparieren, könnte man sagen, dass sich hier, dem schönen Bonmot gemäß, nach dem der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert ist, hehre Absichten an die Stelle einer wirksamen Pädagogik gesetzt haben. Wenn sich diese bei genauerem Hinschauen als Schildbürgerstreiche höherer Ordnung entpuppen, stellt sich die Frage, was man leisten muss, um die eigene Torheit nicht zur Kenntnis zu nehmen - was eine andere Betrachtungsweise darauf ist, was sich heutzutage als Aktivismus gebärdet. Sicher ist nur: Wo Wörter Realitäten ersetzen, ist der Weg zur ideologischen Verblendung nicht fern. Und weil diese Entwicklung auf den Zauber des digitalen Zeitalters trifft, mögen die Verantwortlichen auch fürderhin davon träumen, dass man, nach dem Modell des Nürnberger Trichters, den Schülern mit dem Erwerb von iPads das Weltwissen einträufeln kann – und es vor allem darauf ankommt, sie mit einer zeitgemäßen Moralität auszurüsten. Wie wenig diese „weiße Pädagogik“ wirklich mit einer überlegenen Moral zu tun hat, hat Bernhard Krötz am eigenen Leib erfahren müssen. Unversehens nämlich sah er sich, einer flapsigen, nicht weiter ernstgemeinten Bemerkung wegen, den wüstesten Beschimpfungen selbsternannter Tugendwächter ausgesetzt. Aber weil ihn dies nicht im Geringsten hat erlahmen lassen, haben wir uns zu einem anregenden Gespräch zusammenfinden können.

    Bernhard Krötz lehrt Mathematik an der Hochschule Paderborn. Für seine wissenschaftlichen Arbeiten wurde er mit dem ERC Advanced Grant des European Research Councils ausgezeichnet, dem höchsten europäischen Forschungspreis. Auf seinem YouTube Kanal seziert er mit beißendem Humor die Schildbürgerstreiche, welche sich die Mathematik- und Physikdidaktiker so einfallen lassen.

    Bernhard Krötz - Homepage

    Bernard Krötz - YouTube-Kanal

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    1 h y 44 m
  • Im Gespräch mit ... Jens Hacke
    May 18 2025

    Vor einem guten halben Jahrhundert sind Hannah Arendts »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« erschienen – und auch wenn dieses Werk, als Resultat eines langen geistigen Winterschlafs, etwas in Vergessenheit geraten ist, bietet es doch die psychologisch präziseste Beschreibung dessen, was man als die totalitäre Versuchung der Moderne begreifen kann. Und wenn die Politikwissenschaftler den Totalitarismus allein unter dem Rubrum des totalen Staates verbucht haben, machen heutige, eher dezentral agierende Organisationen klar, dass der Totalitarismus eine Wiederauferstehung erlebt hat, im neuen, überraschenden Gewand. Und dies wiederum ist ein Grund, sich mit Jens Hacke zu unterhalten, der zu der Wiederauflage von Hannah Arendt großem Werk ein langes Nachwort beigesteuert, das selbst die Länge eines kleinen Buches hat. Und weil auf diese Weise die Gedankenwelt der Hannah Arendt revitalisiert wird, lässt sich ein neuer, frischer Blick auf einen Klassiker werden – ein Jahrhundertwerk, das in seiner Bedeutung bis heute noch nicht vollständig erfasst worden ist.

    Jens Hacke lehrt, dessen Habilitationsschrift sich mit der Ideengeschichte der Weimarer Republik beschäftigt hat und dessen wissenschaftliche Arbeit mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde, lehrt als Politikwissenschaftler an der Universität Halle-Wittenberg.

    Von Jens Hacke sind erschienen

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    1 h y 27 m
  • Im Gespräch mit ... Philipp Sarasin
    May 11 2025

    Wenn Foucault, der in den 70er Jahren noch als randständiger Intellektueller galt, unterdes zum meistzitierten Denker der Welt geworden ist, so ist dies umso merkwürdiger, als Foucault zu den großen Rätselgestalten der Philosophie gehört. Und weil man es zudem mit einem sonderbaren Formwandler zu tun hat, der eine Reihe von bemerkenswerten Selbstverwandlungen hingelegt hat, ist die Beschäftigung mit seinem Werk überaus lohnend – und Grund genug, sich mit Philipp Sarasin zu unterhalten, der im deutschsprachigen Raum wohl der beste Foucault-Kenner ist und ihm gleich mehrere Bücher gewidmet hat. Sarasin seinerseits gehört der Gattung jener furchtlosen Historiker an, welche, in der Postmoderne beheimatet, die Geschichte nicht als Bühne der großen Männer auffasst, sondern als eine komplizierte Textur, in der höchst reizbare Maschinen am Werk sind. Und so bekommt man es nicht nur mit einem verwissenschaftlichten Körper zu tun, sondern mit der Biopolitik des Unsichtbaren – ja, einer eigentlich phantasmatischen Welt. Gänzlich ungewöhnlich aber ist Sarasins Buch 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, in der Sarasin den Disruptionen und Diskursverschiebungen der Gegenwart nachspürt – was ihn zur RAF, zum Centre Pompidou und zur Formierung der Identitätspolitik führt. Und natürlich hat auch hier Michel Foucault seinen Auftritt: als Denker, der sich von den Fantasien der Studentenrevolte verabschiedet und sich stattdessen, in einer sonderbaren Volte, dem Zen und der Frage der Freiheit zuwendet – was zu der Frage führt, wie sich die iranische Revolution und der Neoliberalismus unter einen Hut bringen lassen.

    Philipp Sarasin hat bis zu seiner Emeritierung Neuere Allgemeine Geschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich gelehrt. Er ist Mitherausgeber des Online-Magazins Geschichte der Gegenwart.

    Von Philipp Sarasin sind erschienen (u.a.)

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    1 h y 27 m
  • Im Gespräch mit ... Burkhard Hofmann
    Feb 16 2025

    Dass sich ein Psychotherapeut nicht mit den Befindlichkeitsstörungen seiner Landsleute herumschlagen muss, sondern, wie ein Anthropologe, sich um das Seelenleben eines fremden Kulturkreises kümmert, ist eine Seltenheit ersten Ranges – allen Ermahnungen zum Trotz, die sich um das Modewort des Eurozentrismus ranken. In diesem Sinn ist der Hamburger Psychotherapeut Burkhard Hofmann eine absolute Ausnahme, ist er doch der Einladung einer Bahreiner Patientin gefolgt – und hat daselbst, aber auch in einigen anderen Staaten am Persischen Golf eine Reihe von Patienten behandelt. Die Intimität dieses Vorgangs wiederum hat ihm nicht nur Einsicht in das Seelenleben seiner Patienten geschenkt, sondern darüberhinaus den Blick für die kulturellen Besonderheiten geöffnet. Dass hier der Psychotherapeut, seiner Hilfe ungeachtet, die Rolle eines Außenseiters einnimmt, ja gelegentlich selbst in die Position eines Helfershelfer des Scheitan, also des Satans, gerückt wird, bezeugt, in welchem Maße hier noch immer eine kulturelle Kluft waltet – und dass die Psychotherapie keinesfalls eine Selbstverständlichkeit ist, geschweige denn, wie der Ödipus-Komplex, als besserer Partywitz gilt. Dies wiederum macht ein Gespräch mit Burkhard Hofmann nur umso aufregender und erkenntnisfördernder.

    Burkhard Hofmann, der als als Facharzt für Psychotherapeutische Medizin in eigener Praxis in Hamburg wirkt, ist mit seinem Buch Und Gott schuf die Angst. Ein Psychogramm der arabischen Seele einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden. Neben seiner therapeutischen Arbeit hat er u.a. auch für Psychologie heute geschrieben.

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    53 m
  • Im Gespräch mit ... Gunter Dueck
    Feb 2 2025

    Will man mit jemandem über den Einstieg in das digitale Zeitalter sprechen, so ist Gunter Dueck einer der kundigsten wie unterhaltsamsten Gesprächspartner. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass man hier jemandem gegenübersitzt, der im Rahmen eines Weltkonzerns – der IBM - die Rolle eines Distinguished Engineers, eines Chief Technology Officers und schließlich eines Master Inventors innehatte. Mögen all diese Titel ehrfurchtheischend anmuten, so war das Gespräch mit ihm von einer ungewohnten Leichtigkeit – was mit der omnisophischen Ausrichtung seines Lebens zu tun haben mag. War dem jungen Mann, der auf einem Bauernhof in Groß-Himstedt aufwuchs (einer Gemeinde, die 548 Einwohner hat und 5 Straßen zählt), der Beruf des Schriftstellers verwehrt, so wurde er, dahingehend begabt, zum Professor der Mathematik und ging, in Ermangelung eines entsprechenden Universitätspostens, an das Wissenschaftliche Zentrum der IBM in Heidelberg. Arbeitete er daselbst an der technologischen Ausrichtung der IBM, an Strategiefragen und der Problematik, wie sich ein kultureller Wandel einstellen kann, so führte ihm dies den tiefen Konflikt zwischen der Welt der Zahlen und der Kretativität vor Augen. Folglich konzentrierte sich Wild Duck, wie ihn einer der amerikanischen IBM-Bosse nannte, zunehmend aufs Schreiben und darauf, seine an der Philosophie gewonnenen Einsichten in eine fassliche Sprache zu übertragen – eine Tätigkeit, die sich in einer Unzahl von Büchern und Vorträgen niedergeschlagen hat. Und weil er sich dabei nicht scheut, auch unbequemste Wahrheiten auszusprechen, hat Dueck die Stupidologie eines Carlo Cipolla auf höchste Ebenen hinaufkatapultieren können. Hat mich hier eine Abstraktionshöhe erreicht, bei der die Buzzwords des Geschäftswelt dahinschmelzen wie das Eis in der Sonne, treten andererseits die blinden Flecke unserer Gegenwart umso deutlicher hervor. In jedem Fall versteht man, warum selbst das Arcanum der Computerwelt sich so bitter irren konnte, was die Entstehung der Cloud anbelangt – und warum wir uns auf eine Zukunft der autonomen Automobilität einstellen sollten.

    Seit seinem Abschied von der IBM lebt Gunter Dueck als Schriftsteller und weithin bekannter Keynote-Speaker. Hier seine persönliche Website.

    Von Gunter Dueck sind (u.a.) erschienen:

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    1 h y 48 m
  • Im Gespräch mit ... Sama Maani
    Jan 22 2025

    Schlägt man die Zeitung auf, drängt sich der Eindruck auf, dass die Zeiten durchaus einen Psychoanalytiker gebrauchen könnten, mehr noch: einen Denker, der sich den kognitiven Dissonanzen der Gegenwart gewachsen zeigt. Sama Maani, der lange Zeit als Psychiater und Psychoanalytiker in Wien gearbeitet hat, gehört zweifellos zu jener Gattung – umsomehr, als hier der Blick des Literaten hinzukommt, der sich den Absonderlichkeiten der Gegenwart mit ebenso großer Neugierde wie Furchtlosigkeit zu stellen vermag. Maanis Blick auf die Welt hat insofern etwas Erhellendes, als sich hier unterschiedlichste Welten vermischen: Hat man es einerseits mit einer klassischen, österreichischen Prägung zu tun, kommt hinzu, dass Maanai als Bahai einer religiösen Minderheit angehörte, welcher im Iran des Ayatollah Khomeini die Verfolgung drohte. Hat dies zu einem hochdifferenzierten Blick auf die religiösen Versuchungen beigetragen, kam erschwerend hinzu, dass sich ein Bruder des Vaters in Indonesien den Ruf eines Messias erarbeitet hatte – was bei den eigenen Glaubensgenossen wenig Anklang fand. Mögen diese biografischen Prägungen irgendwann eine Bürde dargestellt haben, stellen sie einen Selbstschutz gegen die identitätspolitischen Verirrungen der Gegenwart dar. Folglich konnte Maani, der zeitweilig auch eine Kolumne im österreichischen Standard unterhielt, mit Essaybänden aufwarten, die provozierende Titel wie „Respektverweigerung“ trugen und dies im Untertitel mit der Aufforderung unterlegten: »Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten. Und die eigene auch nicht«. Das Schönste an unserer Unterhaltung jedoch war, dass sie von einer von einer großen Heiterkeit und Leichtigkeit geprägt war, weswegen das Gespräch ganz mühelos von Freuds Regressionsbegriff zu Musils Schreibblockaden und den komplizierten Problemen der Massenpsychologie übergehen konnte.

    Sama Maani studierte Medizin in Wien und Philosophie in Zürich. Nach einer Tätigkeit als Psychiater ließ er sich als Psychoanalytiker in Wien nieder – aber wandte sich, der Leidenschaft folgend, zunehmend der Literatur zu.

    Von Sama Maani sind u.a. erschienen:

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    1 h y 57 m
  • Im Gespräch mit ... Aldo Haesler
    Jan 4 2025

    Mag die klassische Ökonomie schnell zur Tagesordnung übergegangen sein, lässt sich das in den frühen 70er Jahren aufgekündigte Bretton Woods-Abkommen als Wendepunkt in der Geschichte des Kapitalismus begreifen. Seither nämlich ist das Kapital nicht mehr in den Kapitalen zuhause, sondern ist zum Spekulationsobjekt gesichtsloser Finanzmärkte geworden, zudem hat es sich von der Golddeckung gelöst und ist ins free floating eingetreten. Mag diese Revolution unterdessen der Vergessenheit anheimgefallen sein, hat sie in Aldo Haesler doch einen Chronisten gefunden, der den Übertritt in die Postmaterialität, in die Welt des Plastikgeldes, als eine tiefe Krise des Kapitalismus begreift, ja, als Eintritt in einen Gesellschaftszustand, den er, in der Abgrenzung zur Postmoderne, als irreflexive Moderne bezeichnet. Wenn damit ein Gesellschaftszustand gemeint ist, in dem sich Ponzischemen und clickblait-Verheißungen ausbreiten, kehren hier darüberhinaus Gespenster zurück, die zu entziffern es einen weiterem Blickes bedarf, als die klassische Ökonomie ihn zu liefern vermag. Das Gespräch mit Aldo Haesler, der sich wunderbarerweise selbst als Mäanderthaler bezeichnet, war insofern eine große Wanderung, als das Ende von Bretton Woods immer auch Anlass war, tief und tiefer in die fundamentalen Fragen des Geldes hinabzusteigen. War dies eine Frage, die bereits den Vierjährigen so sehr beschäftigt hatte, dass er, um sich in den Besitz einer Spielzeugindianer-Armada zu bringen, einen erfolgreichen Gurkenhandel aufgebaut (und sich dabei, en passant, mit der Arithmetik vertraut gemacht) hatte, so wurde eine Thematik daraus, die ihn ein ganzes Leben beschäftigen sollte. So wandte sich der Student der Wirtschaftswissenschaften, der zunächst an der St. Gallener Universität Wirtschaftswissenschaften studiert hatte, der Philosophie und der Anthropologie zu – und promovierte unter Aufsicht von Jean Baudrillard und Alfred Sohn-Rethel, einem der großen Unbekannten der Frankfurter Schule. Ziel war auch hier, jenem großen Geldrätsel auf die Spur zu kommen, das von der klassischen Ökonomie, der Soziologie, aber auch von den Humaniora niemals in seiner ganzen Gänze in den Blick genommen worden ist. Und genau das in den Angriff zu nehmen, war ein großes Vergnügen für mich, umsomehr, als mich die Problematik von Bretton Woods vor langer Zeit schon umgetrieben hat.

    Nach Lehrtätigkeit in St. Gallen, Montréal und Lausanne wirkte Aldo Haesler von 2001 bis zu seiner Emeritierung als Professor der Soziologie an der Universität Caen.

    Von Aldo Haesler sind erschienen:

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    2 h y 6 m
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